Heute las ich einen Tweet von „Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)“ und plötzlich wurde es sehr still in mir. Es fühlte sich sehr unangenehm an und berührte mich tief. Es gibt in meinem Leben nur einen Menschen, dem ich ausführlicher davon erzählte. Weil ich dem Menschen sehr vertraue und nichts war unangenehm. Es blieb aber dabei. Direkt danach verschwand es wieder in der Versenkung. Erst jetzt wird mir klar, dass ich weder meinem Therapeuten noch meinem Neurologen davon erzählte. So tief verdrängt hatte ich es.
Heute schreibe ich erstmalig offen darüber. Im Tweet hieß es: „Hinter Depressionen oder dissoziativen Identitätsstörungen können Traumata sexualisierter Gewalt in der Kindheit stecken“ und das war der Schreckmoment. Der Augenblick, indem ich mich fragte, ob das auch auf mich zutreffen könnte. Meine Diagnose Depression liegt viele Jahre zurück, aber da ist noch etwas. Geneigte Leser*innen wissen von meiner 25 Jahre andauernden Drogenabhängigkeit. Auch das könnte in dem Zusammenhang gesehen werden. Das ist allerdings nur (m)eine Spekulation. Und ja, ich werde das bei den nächsten Terminen mit meinem Therapeuten und Neurologen zum Thema machen. Für die nachfolgenden Abschnitte setze ich eine dringende Trigger-Warnung. Bitte nicht weiterlesen, wenn die Beschreibung von sexualisierter Gewalt an Kindern was mit euch macht. Ernst gemeint.
Ich breche mein Schweigen
Kommen wir zu den zwei Vorfällen. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben, aber ich bin fest davon überzeigt, dass der offenen Umgang der Weg für meine Heilung ist. Das hat in der Vergangenheit funktioniert und wird es auch in diesem Fall.
Der erste sexuelle Übergriff passierte auf dem Heimweg von der Schule. In Menglinghausen wohnend ging ich auf die Wilhelm-Röntgen-Realschule im Dortmunder Kreuzviertel. Das bedeutete sowohl mit dem Bus wie mit der Bahn fahren. Umstiegsstelle Parkhaus Barop. Genau da passierte es. Ich muss 10 oder 11 Jahre alt gewesen sein, ich weiß es nicht mehr genau. Ich wartete auf den Bus, den „64er“, so hieß die Verbindung damals, heute, ist es die Linie 448. Wir alle kannten diesen Mann, ungepflegt, meistens mit einer Flasche Bier in der Hand. Manchmal stand er auch in Menglinghausen am Kiosk, den es heute nicht mehr gibt, an der Ecke und trank.
An diesem Tag kam er auf mich zu und fragte, ob ich mir fünf Mark (Deutsche Mark) verdienen möchte. Für einen kleinen Jungen nicht wenig Geld. Er sagt, es würde nichts passieren, nicht wehtun, ich müsse nur mit unter die Brücke am Parkhaus Barop kommen. Die Brücke ist die Überführung der S-Bahn-Strecke von Witten Richtung Innenstadt und umgekehrt. Ja, ich fand das etwas gruselig, aber die fünf Mark wollte ich haben. Ich folgte ihm. Unter der Brücke sagte er, ich solle meine Hose runterziehen und ihm meinen Penis zeigen. Mehr nicht, betonte er mehrfach.
Ab dem Zeitpunkt kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur Leere. Ich weiß also nicht, ob ich das gemacht habe und die fünf Mark bekommen habe oder nicht. Es schaudert mich bei dem Gedanken daran. Es macht mich immer noch hilflos.
Für die Bewertung des Vorfalls ist es meiner Meinung nach auch völlig unerheblich, ob es zum „Vollzug“ kam oder nicht. Da hat sich was tief in meine kleine Seele gebrannt. Die Aufarbeitung dessen wird nicht hier nicht jetzt stattfinden. Aber alleine, dass ich mich nicht daran erinnern kann, es so tief verbuddelt habe, zeigt, wie traumatisierend das gewesen sein muss.
Da war aber noch was
Wenige Jahre später, ich war zu dem Zeitpunkt 12 oder 13, auch hier weiß ich es nicht genau. Es gab diesen Jungen, er war etwas älter, er war 16 oder schon 17 und hatte eine Mofa, eine Hercules. Ich stellte mir dieses Gefühl, ohne eigene Muskelkraft zu fahren, als etwas Wunderbares vor. Es hatte für mich etwas von Magie. Mein Wunsch, das mal auszuprobieren, hatte er wohl gerochen oder an meinen Augen gesehen. Er bot mir an, ich dürfe mal mit seiner Mofa fahren und er würde dabei hinten sitzend mitfahren. Sodass auch nichts passiert sagte er.
Gedacht hatte ich mir dabei nichts. Ich fuhr Mofa, es war ein tolles Gefühl. So nach 15 Minuten sagte er, ich solle mal anhalten, es war in einem Waldstück in der Nähe der Autobahn in Eichlinghofen. Noch heute sieht es dort genauso aus wie damals. Er sagte, wenn ich länger oder auch häufiger fahren wolle, müsste ich etwas dafür tun. Er fragte, ob ich schon mal einen „hoch“ bekommen habe und ihm das mal zeigen könne. Das Mofa fahren machte mir so viel Spaß, das ich einwilligte. Das es eine Erpressung gewesen ist und es sich um sexualisierte Gewalt handelte, war mir nicht klar. Jetzt, wo ich es aufschreibe und darüber nachdenke, kocht da auch Wut hoch.
Ich zog mir die Hose runter, drehte mich vor Scham von ihm weg und „arbeitete“ daran … Es funktionierte nicht, auch nach ewig langen Minuten wurde nichts daraus und zog die Hose wieder hoch. Ich war enttäuscht, ich hatte nicht „funktioniert“. Er beruhigte mich und sagte, es wäre nicht schlimm. Sein Vorschlag war mit offener Hose weiterfahren. Während der Fahrt fummelte er hinter mir sitzend an mir rum. Hatte beide Hände in meiner Unterhose. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft „wir“ das gemacht haben. Irgendwann dann nicht mehr. Ich habe zu dem Zeitpunkt nie mit wem darüber geredet. Da war entweder keine Person, der ich genügend vertraute, oder meine Scham war einfach zu groß. Das werde ich nun aufarbeiten, mit jetzt 59 Jahren.
Kann es ein Fazit geben?
Zum jetzigen Zeitpunkt Schlüsse zu ziehen ist für mich nicht möglich, nicht abschließend. Aus psychologischer Sicht gibt es da sicher einige Ansatzpunkte. Das Einzige, was mir damals vielleicht geholfen hätte, wäre ein Mensch gewesen, der mir hätte zuhören wollen. Die Umstände gaben das nicht her. Eltern geschieden, Vater weg, Mutter immer arbeiten, damit wir was zum Essen haben und Großeltern, die ihr Bestes gegeben haben.
Ich mache niemandem einen Vorwurf. Es ist, wie es ist. Was ich mir aber jetzt wirklich gewünscht hätte, eine frühere Bereitschaft, mich dem zu stellen.
Alles hat und braucht seine Zeit.