Ich hatte schon seit Langem vor, über meine Drogensucht zu bloggen. Dass es erst jetzt passiert, hat etwas mit meinem jetzigen Selbstverständnis zu tun. Das Leben ohne Drogen zu erlernen war eine echte Herausforderung und zum Teil sehr frustrierend. Rückblickend war es das wert. Ohne Einschränkungen.
Dazu werden wir uns einer Zeitmaschine bedienen und weit zurückspringen. Den ersten Halt machen wir 1976.
Bis zu dem Zeitpunkt war ich in erster Linie sportlich aktiv. Ich spielte Fußball, ging Schwimmen, spielte Tischtennis und Handball. Das alles wettbewerbsmäßig. Ich lernte schnell und entsprechend erreichten meine Leistungen ein gewisses Niveau. Das nennt sich wohl Talent. In der Regel habe ich aber nach einem Jahr wieder die Brocken geschmissen. Mir wurde langweilig und ich suchte nach einer neuen Herausforderung.
Das mit der Musik
Mit Anfang 14 entdeckte ich die Musik für mich. Ich wollte unbedingt Gitarre und Klavier spielen. Weil ist cool und so. Ich wusste, dass ein Junge aus der Nachbarschaft eine E-Gitarre hatte, die er selber aber nicht spielte. Das war meine Chance. Ich tauschte was mit ihm, kann mich nicht mehr erinnern gegen was, aber der Deal war OK. Ich hatte meine erste Gitarre. Einen kleinen 20-Watt-Verstärker sparte ich mir von meinem Taschengeld zusammen.
Jede freie Minute wurde geübt und ich fing sofort an, auch eigene Songs zu schreiben. Später kam noch eine Western-Gitarre dazu, die sich zu Hause viel angenehmer und unkomplizierter spielen ließ. Klavier hatte ich keins, durfte aber bei einem Kumpel ab und wann mal klimpern. Das reichte mir – vorerst.
Auch das mit den Instrumenten hat ziemlich gut funktioniert und die erste Band, eine Schülerband, wurde gegründet. Der erste Proberaum war im Keller eines Kumpels. Ich konnte dort nicht mal richtig stehen, weil die Decke zu niedrig war. Verrückt. Mittlerweile war ich auf Bass umgestiegen und lernte auch ältere Musiker*innen kennen und ich wusste, einige von ihnen rauchten Dope. Mich störte das überhaupt nicht, eher das Gegenteil. Es war verboten, also illegal und das machte es auch reizvoll. Dazu kam meine Neugier mit einem Hauch Naivität.
Der erste Rausch
So ergab es sich, dass ich auch mit jenen älteren Menschen Musik zu machen begann. Bei einer Pause während der Probe im Rahmen einer Session wurde dann mal ein Joint gedreht. Mir wurde irgendwie warm, einerseits neugierig und andererseits das mit dem Verbotenen – furchterregend spannend. Ich wüsste es nicht anders zu beschreiben. Der Joint machte also die Runde und auch ich kam an die Reihe. Normale Zigaretten, bzw. Tabak kannte ich schon, ich wusste also, wie das geht. Groß war die Enttäuschung, als sich beim ersten Mal keine Wirkung einstellte.
Es hatte nicht sein sollen, dachte ich für mich und reflektierte das auch nicht weiter. Einige Wochen später die gleiche Situation, nur diesmal mit erwünschtem Erfolg. Intensivere Wahrnehmung von Farben und Geräuschen. Der erste Lachflash. Es fühlte sich gut an. Dazu kam eine Relaxtheit, eine innere Ruhe, die ich so nicht kannte. Ich wusste sofort, ich würde es wieder tun.
Von da an dauerte es ungefähr ein Dreivierteljahr bis zum täglichen Konsum. Die klassische Spirale aus kürzeren Abständen und höheren Mengen. Mit knapp 16 Jahren war ich von Cannabis abhängig. Nach einem weiteren Jahr mündete mein Verbrauch in einer durchschnittlichen Menge von drei Gramm pro Tag. Mal mehr, mal weniger.
Freigabe und Entkriminalisierung
Ich kann mir gut vorstellen, das viele eine Abhängigkeit von Cannabis eher belächeln. Gebe aber zu bedenken, dass nicht jeder der ein Glas Bier trinkt auch ein*e Alkoholiker*in ist. Es hat was mit der Menge und der Einstellung zu tun. Mich hat das Kiffen langsam aber sicher kaputt gemacht. Auch warne ich vor einer Verharmlosung und der Einteilung von weichen und harten Drogen, selbst wenn es medizinisch korrekt ist. Ein*e Erstkonsument*in mag es aufgrund der Einteilung als weniger gefährlich einstufen.
Im Besonderen wegen meiner Erfahrungen bin ich für eine Legalisierung und die kontrollierte Abgabe von Cannabis – und das nicht nur zu medizinischen Zwecken. Das steht für mich in keinerlei Widerspruch zu meiner persönlichen Geschichte! Aufklärung und Begleitung ist der Schlüssel für die Austrocknung der mittlerweile mafiösen Strukturen beim Handel mit Cannabis und einer Qualität ohne Streckmittel, die den Ertrag optimieren. Die Bigotterie unserer Gesellschaft in Bezug auf Alkohol und Cannabis muss ein Ende haben. Andere Drogen möchte ich an der Stelle außen vor lassen. Mir fehlt es da eindeutig an Wissen.
Schöner reisen mit LSD
Mit 19 Jahren machte ich den ersten Ausflug in ein anderes ‚Genre‘. Um 1980 war es, zumindest in meinen Kreisen, populär Trips zu schmeißen. Zu dem Zeitpunkt führte ich jetzt schon vier Jahre ein Doppelleben. Auf der einen Seite funktionierte ich so, wie die Gesellschaft es von mir erwartete. Machte meine mittlere Reife, erlernte zwei Berufe und verdiente mein eigenes Geld und zahlte brav Steuern. Auf der anderen Seite begann für mich nach Feierabend die von Drogen und Musik bestimmte, 25 Jahre andauernde Party. Alles andere war mir gleichgültig.
War die Wirkdauer von Cannabis relativ begrenzt, funktionierte die Regel abends Drogen nehmen und morgens arbeiten gehen bei LSD nicht mehr. Also beschränkten wir uns auf die Wochenenden. Immer samstags trafen wir uns und schluckten das Zeug. Ich erinnere mich an nächtelange, tiefsinnige Gespräche und die klassischen Halluzinationen. Spätestens in der Nacht von Sonntag auf Montag ließ die Wirkung nach und ich konnte morgens ’normal‘ arbeiten gehen.
Das ging ein ganzes Jahr lang gut, dann hatte ich das, was mensch einen Horrortrip nennt. Die Wirkung ließ nicht wie gewohnt in der Nacht von Sonntag auf Montag nach. Ich ging also ‚voll drauf‘ zur Arbeit. Mittlerweile war ich im Einzelhandel angekommen. Den ganzen Tag habe ich mich mit aller Kraft bemüht nicht aufzufallen und hatte fürchterliche Beklemmungen. Vom Hörensagen kannte ich die Bedeutung von ‚auf einer Droge hängen bleiben‘ und diese Vorstellung war die Hölle und ließ mich den ganzen Tag nicht los.
Glücklicherweise ließ die Wirkung in der folgenden Nacht nach. Es sollte der letzte LSD-Rausch gewesen sein. Meine Angst war zu groß und ich nicht mehr bereit, dieses Risiko zu tragen.
Bittersüßes Kokain
Nun springen wir ungefähr ins Jahr 1994. Meine eigene Band, das Trio ‚Quiet Violence‘ lief recht gut, wir hatten viele Auftritte und eine feste Fangemeinde. Beruflich war ich mittlerweile Filialleiter und verdiente ordentlich. Eingeladen zu einer Party und gut gelaunt konsumierte ich das erste Mal Kokain. Nach der ersten Nase war ich süchtig. Mit einsetzen der ersten Wirkung gab es kein zurück. Es sollte das schlimmste Jahr in meinem Leben mit Drogen werden und mich sowohl in schlechter körperlicher Verfassung als auch ohne Job zurückzulassen.
Mein über Jahre aufgebautes Kartenhaus brach zusammen. Nichts war mehr mit Trennung, von Arbeits- und Drogenleben, die Grenzen verschwommen, sie lösten sich auf. Es ging alles sehr sehr schnell und mit dem heutigen Abstand muss ich sagen, ich habe das pure Böse gesehen. Die tiefsten menschlichen Abgründe. Ich habe nie Heroin genommen, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass ‚H‘ schlimmer ist, den sichtbaren körperlichen Verfall mal außen vor gelassen.
Ich brauchte mindesten drei, oft auch vier Gramm Kokain am Tag. Wer die Preise kennt, erahnt die Katastrophe und was es bedeutet. Die Finanzierung meiner Sucht kostete täglich 150 Euro und mehr. Monatlich waren das im Minimum 4500 Euro und mit üblicher Erwerbsarbeit nicht zu stemmen. Da ich werder Banken noch Tankstellen überfallen wollte, unterschlug ich das Geld von meinem damaligen Arbeitgeber. Ich frisierte die Bücher in der Filiale und verkaufte Ware, ohne Quittungen auszuhändigen. Mein Motto: Zahl die Hälfte und verlasse das Geschäft ohne Rechnung. Die meisten Kaufwilligen haben sich darauf eingelassen.
Spätestens jetzt verlor ich den Boden unter den Füßen und jegliches Selbstwertgefühl, es war ein One-Way-Ticket. Nach ungefähr einem Jahr war ich auf 62 Kilo abgemagert und das bei einer Körperlänge von 189 cm. Kaum Schlaf, wenig Essen und selbst zum Trinken musste ich mich zwingen. Sobald die Wirkung nur ein wenig nachließ, brach körperlich wie seelisch die Hölle los. Die Wirkdauer von Koks würde ich als sehr kurz bezeichnen, völlig unabhängig vom Reinheitsgrad. Es gab kein zurück. Alles oder nichts.
Die Kündigung
Die Unternehmensführung hatte mittlerweile wohl realisiert, dass im Laden irgendwas nicht stimmte. Es musste ja so kommen. Es war nur eine Frage der Zeit. Eines Morgens standen drei Menschen aus der Führungsriege im Geschäft und eröffneten mir meine Kündigung – fristgerecht, mit Abfindung. Verstehen kann ich bis heute nicht, dass es keine weiteren Konsequenzen gab.
Mein Geld inklusive zwei Kreditkarten sollte noch für zwei weitere Wochen Kokainrausch reichen, dann war Ende. Es gab an dem Punkt genau zwei Möglichkeiten, Schluss mit Kokain, oder eine kriminelle Karriere. Letzteres ist nicht meine Welt, passt nicht zu mir. Ich entschied mich für einen kalten, grausamen Entzug. Das Gröbste war glücklicherweise nach drei Wochen überstanden, ich kompensierte den ‚Affen‘ (Suchtdruck) mit mehr und mehr Cannabis-Konsum. Ich fand irgendwann wieder Arbeit und fand in mein ‚altes‘ Leben zurück.
Der Wegeunfall
Wir springen ins Jahr 2002. Ich arbeitete zu der Zeit in Bochum und fuhr täglich mit der S-Bahn über Witten nach Bochum und zurück. An einem Abend sollte es die letzte Rückfahrt von der Arbeit werden. Auf dem letzten Stück Fußweg Richtung Wohnung bin ich beim Überqueren der Straße von einem Auto erfasst worden. Mein linkes Bein war ziemlich kaputt. Wie krass die Folgen des Unfalls tatsächlich waren, wurde mir erst sehr viel später klar.
Es folgte eine 11-stündige Notoperation, über ein Jahr intensive Reha mit teilweise so starken schmerzen, dass ich sie nur noch weinend ertragen konnte. Ich habe zwar gejammert, aber durchgehalten und gekämpft. Heute kann ich mit meinem Bein fast alles wieder machen. Geblieben ist eine sogenannte Belastungsgrenze von vier Stunden. Alles darüber hinaus kann auch mal schmerzhaft werden. Gemessen an der Aussage des operierenden Arztes, dass ich eine Chance von 50% habe, das Bein nicht zu verlieren, ein tolles Ergebnis. Danke an die Ärzte und Therapeuten, die das möglich gemacht haben.
Besser spät als nie
Wir schreiben das Jahr 2004. Der größte Teil meiner Reha war durch, ich konnte mich wieder recht gut bewegen. Allerdings begann ich in der Zeit aus Frust, zusätzlich zum Kiffen, noch mit Alkohol trinken an. Mein Tagesablauf bestand aus wenig Essen, viel saufen (3 Flaschen Sekt) und selbstredend kiffen bis zum Umfallen. Dann drei bis vier Stunden Schlaf und dasselbe wieder von vorn. Einen ’normalen‘ Tag-Nacht-Rhythmus gab es für mich nicht mehr, auch musste ich mich regelmäßig übergeben.
An einem dieser Tage kroch ich morgens aus dem Bett und war völlig fertig mit mir und überhaupt allem. Ich wollte und konnte nicht mehr, ich musste raus aus diesem Loch, sofort und für immer. Alles, was irgendwie mit meiner Drogensucht zu tun hatte, habe ich in eine Tüte gestopft. Ich habe mich angezogen, bin raus aus der Wohnung, habe die Tüte in die Mülltonne geworfen und mich auf den Weg zum Hausarzt gemacht.
Ihm habe ich meine Geschichte erzählt und mit einer Einweisung in eine Suchtklinik kam ich aus der Praxis. Bin auf direktem Weg nach Hause, Tasche mit dem Notwendigsten gepackt und in die besagte Klinik gefahren. Dort habe ich sieben Tage verbracht und das war gut und sehr wichtig. Dort habe ich Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe geknüpft und intensive Gespräche mit einer Psychologin geführt. Es war auf einmal alles so klar, mein zukünftiger Weg so eindeutig. Ich weiß bis heute nicht, was genau mich an besagtem Morgen dazu gebracht hat, die Kehrtwende einzuleiten. Meine Drogenkarriere war beendet. Drogenabhängig bleibe ich mein Leben lang.
Fazit
Die ersten beiden Jahre habe ich mich mit einer ambulanten Gesprächstherapie begleiten lassen. Zurzeit mache ich eine Auffrischung, eine sogenannte Stabilitätsüberprüfung. Meine ‚Drogen-Karriere‘ ist Teil von mir und wird es immer bleiben. Ich bin die Summe aller meiner Erfahrungen.
Der bedingungslose offene Umgang mit meiner Sucht ist ein wichtiger Teil meiner Nachsorge. Es hält meine Erinnerung daran wach und gleichzeitig schützenden Charakter. Seit neun Jahren arbeite ich ehrenamtlich für die Drogenberatungsstelle in Dortmund und führe Seminare an Dortmunder Schulen durch. Ich erzähle meine Geschichte und mache anschließend eine Frage- und Gesprächsrunde mit den jungen Menschen. Natürlich dürfen sie auch direkt während des Seminars fragen stellen.
Bestandteil meiner Geschichte ist ein kleines Spiel und die Schüler*innen addieren alle aufgelaufenen Kosten für Drogen in den 25 Jahren Abhängigkeit. Das Ergebnis ist für mich jedes Mal aufs Neue erschreckend. Gerechnet wird mit einem Mittelwert, ich gehe davon aus, dass die tatsächliche Summe viel höher ist …
Kosten
- Cannabis = 30 €/Tag = 900 €/Monat = 10800 €/Jahr x 25 = 270.000 €
- Kokain = 150 €/Tag = 4500 €/Monat = 54.000 €/Jahr x 1 = 54.000 €
Die Kosten für LSD sind in diesem Zusammenhang vernachlässigbar. Eine Gesamtsumme von 350.000 Euro halte ich für mehr als realistisch. Der Betrag dürft eher höher liegen. Auf Anhieb fallen mir viele hübsche Dinge ein, die ich … Aber so funktioniert das eben nicht.
2010 durfte ich nach langem Hin und Her mit den Behörden meine dritte Ausbildung machen. Jetzt habe ich auch einen Abschluss als Kaufmann für Marketingkommunikation. Zurzeit arbeite ich allerdings in Teilzeit bei den beiden MdL Birgit Rydlewski und Torsten Sommer als persönlicher Mitarbeiter. Meine Haupttätigkeit ist Vernetzung und Bündnisarbeit im Bereich Antifaschismus und an zwei Tagen Präsenz und allgemeine Arbeiten im Wahlkreisbüro.
Gesundheit
Gesundheitliche Nachwirkungen des Konsums sind nicht feststellbar. Die Lungengeschichte die mir im Moment zu schaffen macht, ist auf eine versteckte Lungenentzündung zurückzuführen. Psychosen habe ich auch keine, auch wenn ich mich an Phasen von leichtem Verfolgungswahn (jeder Mensch sieht mir an, dass ich gekifft habe) erinnern kann. Einer der bearbeiteten Stränge während der ersten zwei Jahre Therapie bezog sich auf eine Selbstmedikation mit Cannabis, wegen ADHS. Heute habe ich gelernt damit umzugehen, es teilweise sogar sinnvoll einzusetzen. Das ist aber eine andere Geschichte.
Schlusswort
Ihr habt bis hierher gelesen? Das freut mich sehr. Es ist viel mehr Text geworden, als ich vorhatte zu schreiben und trotzdem gibt es noch so viele kleine Geschichten, die es Wert wären, in dem Zusammenhang erzählt zu werden. Vielleicht irgendwann an anderer Stelle.
Bilder:
Hanf/NicoLeHe, Kokain/Bernd Kasper, Rettungsliege/ilona brigitta martin, Geld/flown @ pixelio.de
Update – 4. März 2018:
Die Zeitschrift der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat mit mir gesprochen und auch Feedback zu meiner Arbeit in einen Text gegossen: „Wenn mal Gelder für Präventionsarbeit fehlen – Rutkowski ist der Baustein, den wir retten sollten“.
Update – 30. September 2020
Für die Kampagne „Mind your Head- Gesundheit beginnt im Kopf!“ durfte ich einen kleinen Text beisteuern: „Meine Suchtgeschichte ist sowohl Abschreckung wie auch mögliche Motivation für einen Ausstieg“.
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